Rudolf Strahm, Sie haben eine Laborantenlehre in der Basler Chemieindustrie absolviert und danach studiert. Würden Sie diesen Weg wieder einschlagen?
Die Berufslehre hat mich geprägt und fürs ganze Leben praxisorientiert, arbeitsmarktfähig und effizient gemacht. Damals, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, war dieser Bildungsgang von der Lehre an die Universität allerdings ein Umweg, heute wäre er direkter möglich.

Sie sind ein Befürworter der Berufslehre. Wie kam es dazu?
Ich kenne beide Bildungssysteme, die Berufsbildung und den universitären Weg. Ich war auch in beiden als Dozent aktiv. Die Berufslehre hat Vorteile, weil sie direkt für den Arbeitsmarkt ausbildet. Länder mit einer Berufslehre haben eine markant tiefere Jugendarbeitslosigkeit. Die Lehre ist das beste Instrument der Armutsverhinderung. Die Berufslehre ist zudem volkswirtschaftlich matchentscheidend für die Effizienz und Produktivität der Firmen. Dank der Berufslehre ist die Schweiz trotz hoher Löhne international enorm konkurrenzfähig.

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen bei der Berufsbildung?
Wir erleben einen gesellschaftlichen Trend zugunsten des Gymnasiums. Wo die Gymnasialquote hoch ist, hat die Berufslehre ein soziales Stigma, sie gilt dann als Bildungsgang für die Schwächeren. Das ist vor allem in der Westschweiz der Fall. Die Berufslehre muss aufgewertet werden, indem der allgemeinbildende Unterricht ABU moderat erweitert wird, ich denke etwa von drei auf fünf Wochenstunden. Das nützt auch der gesellschaftlichen Anerkennung. Zudem müssen die Eltern noch mehr aufgeklärt werden, dass man mit Weiterbildungen nach der Lehre auch eine erfolgreiche Karriere machen kann.

Wird heutzutage in den Schulen das Richtige unternommen, damit die Kinder und Jugendlichen auf das Arbeitsleben vorbereitet werden?
Viele Schüler und Jugendliche haben keinen Bezug mehr zur Arbeitswelt. Deshalb ist das Schulfach «berufliche allerdings, dass auch die Lehrperson, die dieses unterrichtet, gut vorbereitet ist. An den pädagogischen Hochschulen wird in der Lehrerbildung zu wenig dafür getan. Wichtig sind auch Schnuppertage für Oberstufenschüler in den Betrieben. Das ist für viele kleinere Betriebe eine zeitaufwendige Herausforderung, aber dieser Aufwand lohnt sich.

Berufslehre oder weiterführende Schule? Diese Frage ist für junge Menschen und deren Eltern ein Schlüsselentscheid. Was raten Sie den Betroffenen?
Das ist in der Tat eine wichtige Weichenstellung. Für Schüler mit guten Noten, die auch gerne weiter zur Schule gehen, ist der gymnasiale Weg richtig. Aber viele Junge sind mit 16 schulmüde. Viele quälen sich im Gymnasium vom schlechten Notendurchschnitt zum nächsten und sind unglücklich. Wer eine Lehre erfolgreich absolviert, hat heute so viele Möglichkeiten der Weiterbildung und Karriere: Mit der Berufsmaturität zur Fachhochschule oder mit der Höheren Berufsbildung zum Teamchef, Fachspezialisten oder Geschäftsführer.

Viele Jugendliche besuchen eine weiterführende Schule nach der obligatorischen Schulzeit, weil sie nicht wissen, was sie wollen. Liegt das an den Angeboten der Berufswahl oder am Alter?
Ein zehntes Schuljahr kann in bestimmten Fällen richtig und hilfreich sein. Aber viele Jugendliche, die aus Unentschiedenheit das Gymnasium wählen, wissen oft auch nach der Maturität nicht, was und wo sie studieren wollen. Deshalb gibt es so viele Studienwechsler. Von Jugendlichen, die ins Gymnasium eintreten, machen im Mittel nur 50 bis 60 Prozent einen Uni-Abschluss als Bachelor. Das ist eine Ressourcenverschwendung. Und auch nach der Uni fehlt ihnen oft die Arbeitsmarktbefähigung. Wer jedoch eine Berufslehre absolviert, weiss am Schluss der Lehre, was er oder sie beruflich will oder nicht will.

Viele Lehrer empfehlen Schülern mit guten Noten noch immer das Gymnasium. Warum?
Ja, das kommt viel zu häufig vor. Viele Lehrpersonen zählen sich zur Bildungselite und sie projizieren ihren eigenen Bildungsgang vom Gymnasium zur Pädagogischen Hochschule auf ihre Schüler. Viele Lehrpersonen kennen das Berufsbildungssystem und die vielen durchlässigen Karrierevarianten nicht aus eigener Erfahrung und machen ihren eigenen Bildungsweg zum Massstab.

Jugendliche entscheiden sich auch auf Druck des Elternhauses für das Gymnasium und gegen eine Berufslehre. Warum sind so viele Eltern vom akademischen Weg überzeugt?
Wie schon erwähnt, die akademische Bildungselite ist halt standespolitisch vorgeprägt. Die Eltern, welche selber studiert haben, projizieren ihre Vorstellungen auf den Nachwuchs. Viele Eltern, vor allem auch Expats, kennen das durchlässige Bildungssystem in der Schweiz nicht. Sie befürchten, die Lehre sei ein Weg in Tieflohnjobs. Deshalb ist es so wichtig, dass die Lehrpersonen in der Oberstufe und die Berufsberater/innen immer wieder unser durchlässiges System erklären.

Was lernt man in der Berufslehre, was man im Gymnasium nicht lernt?
Beide Bildungswege haben ihre Stärken und Schwächen. Das Gymnasium bietet zweifellos mehr in der schulischkognitiven Wissensvermittlung. Die Berufslehre fördert und bewertet auch die praktische Intelligenz. Dazu gehören zum Beispiel handwerkliches Können, Ausführungskompetenz, praxisnahes Umsetzen, sprich, die Fähigkeit, Fachwissen auch umsetzen zu können. Die Berufslehre fördert aber auch das, was wir als «soft Skills» bezeichnen, wie Exaktheit, Präzision, Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Selbstverantwortung. Diese typischen weltbekannten Stärken der Schweiz werden über die Berufslehre vermittelt.

Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, dass mit einer Berufslehre die Karrierechancen mindestens so gut wie mit einer Matura sind. Welche Belege haben Sie dazu?
Der Arbeitsmarkt hat in aller Stille gekehrt. Wir belegen dies mit zahlreichen Bildungsindikatoren. Heute werden, statistisch gesichert, Fachkräfte mit einer Berufslehre und nachfolgenden Tertiärbildungen, wie Fachhochschule oder die höhere Berufsbildung, vom Arbeitsmarkt mehr begehrt als die Uni-Abgänger. Heute wird bspw. in den Spitälern der Ärztemangel vom dramatischen Mangel an qualifizierten und diplomierten Pflegefachpersonen überlagert. Oder in der Energiepolitik fehlen heute die qualifizierten Techniker, Monteure und Installateure von Solarpanels, Wärmepumpen, Sensortechnik, Gebäudeautomation. Diese Fachkräfte mit höherer Berufsbildung sind heute die wichtigen mittleren Kader in der Wirtschaft. Wir haben nicht generell einen Akademikermangel, sondern ganz spezifisch einen Mangel an Ärzten, Informatikern, Ingenieuren. Es werden an den Universitäten aber zu viele ausgebildet, welche vom Arbeitsmarkt nicht gefragt sind. Fünf Jahre nach Abschluss an der Uni – dies zeigt die BFS-Hochschulabsolventenbefragung – haben 28 Prozent der Master-Diplomierten noch keine feste Anstellung. Bei den Fachhochschulen sind es nur fünf Prozent, und bei den Absolventen der höheren Berufsbildung nahezu null.

Ist die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz eher eine Herausforderung für die akademische Bildung oder für die Berufsbildung?
Das, was in zehn Jahren an Know-how erforderlich ist, kennen wir heute noch gar nicht und können es entsprechend nicht ausbilden. Dies gilt für alle Stufen. Deshalb ist die – meist berufsbegleitende – höhere Berufsbildung mit 30, 35 oder 40 Jahren so matchentscheidend. Diese Absolventen/innen sind heute die wichtigsten «Technologiediffusionsagenten», die Verbreiter der neusten Anwendungstechniken in der KMU-Wirtschaft. Denn sie stehen voll im Arbeitsmarkt und bilden sich praxisnah weiter. Für die Innovationskraft der Wirtschaft ist die höhere Berufsbildung genauso wichtig wie Fachhochschulen und Universitäten.

Was hilft dem Fachkräftemangel mehr, die akademische Ausbildung oder die Berufsbildung?
Es fehlen vor allem technische Fachkräfte basierend auf Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik (so genannte MINT-Berufe). Die Sprachlastigkeit der Gymnasien oder des Gymnasialzugangs bremst viele (oft männliche) Anwärter aus, den gymnasialen Weg zu wählen. Umso wichtiger sind heute die Qualifikationsstufen an den Fachhochschulen und den tertiären Bildungsgängen der Höheren Berufsbildung. Sie erlauben auch den einseitig technisch Begabten eine Berufskarriere.

Karriere mit Berufsbildung

Autor
Rudolf Strahm ist Ökonom und Chemiker, Dr.h.c. Er war SP-Nationalrat und eidgenössischer Preisüberwacher. Er begann seine Berufslaufbahn mit einer Lehre in der Basler Chemie. Als Nationalrat begleitete und prägte er die Berufsbildungsreform der Neunzigerjahre. Während 25 Jahren wirkte er nebenamtlich als Dozent für Berufs- und Laufbahnberater/innen an den Universitäten Bern und Freiburg.

Buchhinweis
Ea Eller, Rudolf H. Strahm, Jörg Wombacher: «Karriere mit Berufsbildung. Warum der Arbeitsmarkt Fachkräfte mit Berufslehre am meisten begehrt.» hep Verlag 2023. 203 Seiten, Fr. 29.–, e-Book Fr. 21.–.